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Brainspotting bei komplexerem Akuttrauma


Fall 4 – Brainspotting bei komplexerem Akuttrauma – Oktober 2022

Einführung:
55jähriger lang erfahreren Fernbusfahrer kollidiert mit Suizidantem, der sich von einer Autobahnbrücke fallen läßt. Er prallt gegen die Frontseite des Fernbusses und ist sofort tot. Der Busfahrer ist völlig geschockt, die Fahrgäste zum Teil – sie haben zumindest einen dumpfen Aufprall gehört. Der Fahrer war nicht mehr arbeitsfähig und erfüllte im Erstgespräch alle Kriterien einer Posttraumatischen Belastungsstörung.

Behandlung:
Der 55jährige lange erfahrene Fernbusfahrer berichtete mit noch immer großer Betroffenheit davon, daß er mit seinem Fernbus gegen Abend durch einen sehr belebten Großstadtbereich unterwegs gewesen war. Er sei gen Westen gefahren, die Sonne habe gelegentlich etwas geblendet. Er habe mehrere relativ nahe beieinanderstehende Brücken unterqueren müssen und habe in letzter Sekunde auf einer dieser Brücken schemenhaft eine sich bewegende Gestalt entdeckt. Diese habe sich plötzlich und unerwartet fallen gelassen und sei gegen die Frontseite des Busses geprallt, die Frontscheibe sei gesprungen, aber nicht geplatzt. Er habe völlig geschockt aus voller Fahrt sofort gestoppt, die Warnblinkanlage angeschaltet und es sogar noch geschafft, die Fahrgäste zu beruhigen, denn diese hatten den dumpfen Aufprall gehört. Er habe vorsichtig nach hinten geblickt und Einzelteile des zerfetzten Körpers gesehen. Er habe einen Notruf abgesetzt und wisse nicht mehr, wie lange es gedauert habe, bis die Polizei, ein Rettungswagen und das Technische Hilfswerk eingetroffen seien, er wisse auch nicht, was er in der Zwischenzeit eigentlich gemacht hätte.

Er könne den dumpfen Aufprallschlag auch jetzt noch hören, überall seien die Überreste des Suizidanten zu sehen gewesen. Nach dem Nothalt auf der Autobahn sei er von Rettungssanitätern in einen Rettungswagen geführt worden und habe gehört, wie diese sich lautstark über die gefundenen „Überreste“ unterhalten hätten. In vielen Nächten wache er immer wieder schweißgebadet auf und habe diese Bilder vor sich, er könne in der Küche keinen Blumenkohl mehr aufschneiden und bat darum, daß das in der Praxis stehende Gehirnmodell aus Kunststoff entfernt würde. Nach dem Unfall sei er auf die von der Frontscheibe des Busses tropfende Hirnmasse aufmerksam gemacht worden – dies könne er innerlich nicht mehr losbekommen. Auch von den weiteren „Resten“ habe er zu viel gesehen und von der Kripo gehört, was alles gefunden worden sei. Er könne inzwischen auch seinen Hund nicht mehr mit Fleischresten füttern.

Eine Erfassung der aktuellen Symptombelastung mithilfe des Screening-Frage-bogens PTSS-10 (Skala zur Erfassung von Reaktionen nach Belastungen) ergab bezogen auf die letzten sieben Tage den kritischen Grenzwert von 35 Punkten – ab 36 Punkten spricht man vom dringenden Verdacht auf das Vorliegen einer Post-traumatischen Belastungsstörung. Dabei zeigten sich am stärksten ausgeprägt Schlafstörungen – er wache vier bis achtmal während der Nacht auf und müsse tagsüber viel schlafen, gefolgt von Albträumen, vor allem von den menschlichen Überresten auf der Autobahn und auch auf der Frontscheibe. Etwas schwächer, aber immer noch jenseits des Mittelwertes zeigten sich Schreckhaftigkeit, z. B. bei Blaulichtern und Verkehrsgeräuschen sowie Rückzugsbedürfnisse, vor allem nach Ruhe und Abstand und Gereiztheit – schon bei Kleinigkeiten „explodiere“ er sowie Erinnerungsängste: Alles was mit Springen, z.B. im Fernsehen, zu tun hätte, könne er nicht ertragen und sogar mein ihm gezeigtes Gehirnmodell könne er nicht anschauen. Im Mittelbereich zeigten sich depressives Gedrücktsein („drifte weg und habe ein Loch in mir“), etwas schwächer Muskelverspannungen vor allem im Rücken und Nacken sowie Stimmungsschwankungen zwischen Traurigkeit und Ruhebedürfnissen und auch Selbstvorwürfe, denn er hätte an diesem Tag auch die Wahl gehabt sich frei zu nehmen – aber er habe fahren wollen.

Diagnostisch dürfte es sich um das Vollbild einer Posttraumatischen Belastungs-reaktion (F43.1) gehandelt haben, auch da der Vorfall nun bereits einige Wochen zurück gelegen hatte, die Selbstheilungskräfte für eine Verarbeitung offensichtlich nicht ausgereicht hatten und sich die Symptomatik eher verfestigt hatte. Außerdem hatte er offensichtlich inzwischen eine gewisse Resignation entwickelt, einen geeigneten Psychotherapeuten zu finden, weshalb er seine Lebensgefährtin gebeten hatte, anrufen und nachfragen. Er selbst sei nicht mehr bereit, bei mehreren Anlaufstellen oder Psychotherapeuten seine Unfallgeschichte ausführlich zu erzählen, um dann doch keine wirkliche Unterstützung zu bekommen.
Bei der Frage nach Vorbelastungen benannte er den Tod einer früheren Freundin sowie eine Tinnitus-Reaktion im Rahmen seiner Techniker-Ausbildung. In den Folgesitzungen gab der Busfahrer an, am stärksten mit den Albträumen und Stimmungsschwankungen zu kämpfen zu haben, weshalb ihm angeboten wurde, den Vorfall mit Brainspotting zu bearbeiten. Es zeigten sich über das innere Fenster bei der Fokussierung des Unfallereignisses sehr schnell relativ hohe Belastungswerte (SUD=7, ansteigend) mit Körperreaktionen in Form von Druck auf der Brust und im Kopf, Luftnot und Enge im Hals. Angesichts der starken Reaktion wurde ihm eine Körperressource angeboten– er wählte die Waden, was zu einer allmählichen Entspannung des Stressverarbeitungssystems führte. Überraschend war, daß er gegen Ende dieser ersten Brainspotting-Sitzung plötzlich von Gefühlen der Traurigkeit sprach und ich ihn dementsprechend fragte, ob er denn den Suizidanten gekannt hätte. Er verneinte, erwähnte aber, daß er Ähnliches schon mal erlebt hätte: Eine frühere Freundin sei nach einem Streit auf einer Party alleine nachhause gegangen, sei überfallen und vergewaltigt worden und habe sich wenige Tage später vermutlich deswegen erhängt. Dies habe ihn damals schwer geschockt, auch habe er sich Vorwürfe gemacht, daß er sie habe alleine nachhause gehen lassen. Ich erklärte ihm, daß ich ziemlich sicher sei, daß das Gehirn und das Stressverarbeitungssystem beide Vorfälle in einer „ähnlichen Schublade“ gespeichert hätten – zumindest beides miteinander verbunden sei. Dementsprechend empfahl ich ihm, auch diesen Vorfall – auch wenn er schon lange zurück liege – durchzuarbeiten.

Tatsächlich ließ er sich in der dritten Sitzung darauf ein, gab an, daß er sich nach der Brainspotting-Sitzung „relativ entspannt“ gefühlt habe, vor allem auch, weil er sich viel Ablenkung durch Außenaktivitäten verschafft hätte – was vorher nicht möglich gewesen sei. Die Nächte seien aber immer noch von Aufschrecken nach dem Aufprallknall und heftigen vegetativen Reaktionen gekennzeichnet. Er habe den Ablauf mehrfach aufgeschrieben, was wenig geholfen hätte. Da die Albträume weiter anhielten, zu variieren begannen und darin plötzlich auch seine kleine zweieinhalbjährige Tochter auftauchte, wurde ihm eine weitere Brainspotting-Sitzung mit den schlimmsten Bildern der Albträume, vor allem dem Sprung des Suizidanten, angeboten. Zweimal „durchkreuzte“ ich im affektiv belastensten Moment mit meinem Gesicht seine Blickachse, d.h. ich ging mit meinem Gesicht genau auf der von ihm gewählten Blickrichtung in direkten Blickkontakt mit ihm. Dies irritierte ihn in seinem affektiven Hochstress und führte zu einer Abnahme des „Albtraum-Spuks“. Zusätzlich bot ich ihm noch einen Ressourcen-Spot an, wobei er Kontakt zum rechten Zeigefinger, Arm und rechten Oberkörper fand. Der „affektive Spuk“ im Körper reduzierte sich deutlich.

Er berichtete in der Folge, daß es ihm tagsüber besser ginge, daß er allerdings länger anhaltende Kopfschmerzen gehabt und sich eine Erkältung zugezogen hätte. Die Albträume waren nicht völlig verschwunden, sondern variierten in verschiedenen Verkehrssituationen, weswegen ihm erneut die Arbeit mit Brainspotting angeboten wurde. Da Albträume zumindest eine Art Vorstufe von Verarbeitung sind, konnte verstanden werden, daß die Aktivierung nur noch auf 6 bis 7 Punkte anstieg. Über den Aktivierungs-Spot meldeten sich Hals und Brustbereich, Gefühle von Hilflosigkeit, Trauer und Schuldgefühle wurden spürbar. Auch hier half eine Körperressource mit Kontakt zum rechten Bein und der rechten Wade, der SUD-Score sank allmählich. Der Suizid der Freundin habe damals sein Leben komplett verändert, die eigenen Eltern hätten davon gar nichts davon erfahren, die „Schwiegereltern“ hätten ihm die Schuld am Tod ihrer Tochter zugesprochen. Die damalige Freundin sei von ihm schwanger gewesen, die jetzige sei es auch – eine besondere Brisanz. Vielleicht war deswegen die eigene Tochter im Albtraum erschienen.

Er berichtete von besseren Nächten, es habe inzwischen auch schöne Momente gegeben, es sei sogar mal wieder am Fluß gewesen. Der Tod der damaligen Freundin wurde erneut Thema, er schilderte, wie er sie kennengelernt hatte, daß sie schwanger von ihm gewesen sei und daß sie überlegt hätten zusammenzuziehen. Während der gemeinsamen Party habe es draußen einen Tumult gegeben, er sei aufgrund der Schreie zusammen mit dem Bruder der Freundin nach draußen gegangen, wo die Freundin inzwischen von sieben Angreifern überwältigt worden war. Er selbst und der Bruder hätten versucht dazwischen zu gehen, der Bruder habe ein Messer zwischen die Rippen bekommen und sei später daran verstorben. Er selbst sei ebenfalls verletzt und kampfunfähig geschlagen worden und habe hilflos und ohnmächtig zusehen müssen, wie die Freundin vergewaltigt worden sei. Der schlimmste Moment sei gewesen zusehen zu müssen und nichts machen zu können. Erst im Rettungswagen sei er wieder aufgewacht – offensichtlich war er dissoziativ „ausgestiegen“, auch die Freundin sei ins Krankenhaus gebracht worden, der Bruder sei inzwischen verstorben gewesen. Die Eltern der Freundin hätten den Zugang zu ihr verwehrt.

Die Fokussierung auf die schlimmsten Momente zeigten über einen Aktivierungsspot bei einem SUD-Score von 9 Punkten heftige Sensationen in Hals und Brust, Atemprobleme und einen stechenden Schmerz im Hals. Auch jetzt zeigte sich ein „dissoziativer Ausstieg“, er beschrieb, die „Wände kämen auf ihn zu“, weshalb eine Unterbrechung der Brainspotting-Fokussierung erfolgte und angesichts der hohen Aktivierung erneut eine Körperressource angeboten wurde – wieder waren es das rechte Bein und die Wade und es gelang ihm in der Gegenwart der therapeutischen Situation zu bleiben. Es entstanden innere Ruhe und Traurigkeit, er nahm aber auch heftige Aggressions-Gefühle wahr, welche er nur beobachten sollte, ohne darauf zu reagieren. Wut und Trauer entstanden im Bauchbereich.

Diese fünf Sitzungen waren für ihn verständlicherweise nicht nur schwer auszuhalten, er berichtete aber auch, irgendetwas sei zunehmend leichter geworden. Gelegentlich meldeten sich sowohl Gefühle von Hilflosigkeit, denn ein Busfahrer habe ja keine Chance seinen Bus aus voller Fahrt rechtzeitig zum Stehen zu bringen, als auch Gefühle von Traurigkeit, Wut und Aggression über die Vorkommnisse von damals. Er wolle keine Einzelheiten aus dem Leben des Suizidanten wissen oder warum dieser sein Leben weggeschmissen und andere mit reingerissen habe. Insgesamt schien der 55jährige ruhiger geworden zu sein. Subjektiv fühle sich der Nachtschlaf besser an, die Partnerin habe ihm aber berichtet, daß er nachts doch immer noch sehr unruhig sei. Gleichzeitig bereite er sich nun auf die Wiedereingliederung vor, denn er wolle nicht in einer Vermeidungsschleife hängen bleiben. Deswegen wolle er sich jetzt auch wieder verabschieden und darauf hoffen, daß nun das eigene Stressverarbeitungssystem in der Lage sei, die „Restbestände“ des Vorfalls selbst zu verarbeiten. Wenn ihm dies nicht gelinge, wolle er wieder kommen. Er tat es nicht – die fünf Sitzungen mit drei Brainspotting-Einheiten schienen ausreichend zu sein.

Nachbemerkung:
Insgesamt waren die Verarbeitungs-Prozesse angesichts des Erlebten sehr heftig, zeigten aber, daß Verarbeitung mit gezielten Angeboten und unter geschützten Bedingungen relativ schnell Besserung ermöglichen. Ob der Suizid der Freundin und die vorangegangenen traumatischen Lebenserfahrungen sowie die Ermordung des Bruders der Freundin wirklich in dieser kurzen Zeit verarbeitet werden konnten, läßt sich im Nachhinein nicht beantworten. Ihm war es jedenfalls wichtig, das aktuelle Ereignis zu integrieren und wieder seinem Beruf nachgehen zu können. Auf einer Trauma-Station, die ich zehn Jahre zuvor aufgebaut und geleitet hatte, benötigten wir in ähnlich gelagerten Fällen, z.B. bei Lokführern mit mehreren Überfahr-Traumen, die das Knacken der Knochen der Suizidanten noch im Ohr hatten, mithilfe der Screen-Technik zwischen acht und zwölf Wochen stationäre Aufenthaltsdauer, um sie einigermaßen von den Folgen zu befreien. Die oben geschilderte ambulante Behandlung mit den fünf Brainspotting-Sitzungen erstreckte sich über ziemlich genau vier Wochen. Eine Nachfrage ein Jahr später bestätigte, daß es ihm gut ging.