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Fallbeispiel aus der Praxis - August 2022


Fall 2 – Brainspotting aktiviert Selbstregulationskräfte – August 2022

Anmerkung für Therapeuten

Warum ist bei Brainspotting eigentlich die individuelle Prozeßorientierung so entscheidend wichtig ? Das Brainspotting-Verfahren erlaubt es, mithilfe einer vertrauensvollen Arbeitsbasis schützende Rahmenbedingungen herzustellen, die es dem/r KlientIn ermöglichen, sich dem Verarbeitungsprozeß in einer Weise zu überlassen, daß die jedem Menschen innewohnenden Selbstregulations- und Selbstheilungskräfte aktiv werden können. Kognitive Orientierungen und starres Festhalten an vorgegebenen Behandlungs-Manualen wären angesichts des Nichtlinearität und Komplexität unseres Gehirns hinderlich. Dementsprechend folgen die TherapeutInnen im Sinne der „Kometen-Metapher“ dem Prozeßverlauf mit Achtsamkeit und Empathie – egal, wohin dieser führt. Diese Ungewißheit ist für beide Seiten oft schwer auszuhalten, denn der Verarbeitungsprozeß verläuft höchst individuell und ist bei jedem Menschen anders.

Beschreibung des Prozesses aus dem Erleben einer Klientin

“Alleingelassensein und mich vom Leben und der Welt abgetrennt fühlen – das war lange Zeit das Grundgefühl auf meinem Lebensweg”.

Alleingelassen mit einem Polizeibeamten, der mir gerade die blutüberströmte Lederjacke meines Bruders in die Hand gedrückt hatte, die ich ihm zwei Jahre zuvor geschenkt hatte. Alleingelassen war ich mit allem, was danach kam und mit allem, was uns dorthin geführt hatte. Nicht das entsetzliche Geschehen selbst belastete mich. Mein Bruder war viele Jahre zuvor bei einem Autounfall tödlich verunglückt und ich hatte dies alles schon lange durchgearbeitet. Die Bilder machten mir nach den vielen Jahren gar nicht mehr zu schaffen. Aber ein Gefühl des Alleingelassenseins belastete mich zunehmend. Es ging mir nicht um den Tod meines Bruders an sich. Das war mir nicht mehr so präsent. Aber ich hatte körperliche Beschwerden entwickelt. Ich war sehr verspannt, manchmal konnte ich mich kaum bewegen und mir wurde schwindlig. Alles in allem fühlte ich mich unsicher in meinem Körper.

Ich hatte von Brainspotting gehört und wandte mich an Gerhard Wolfrum. Wir verabredeten einen ersten Termin. Ich war gespannt, ob mir diese Methode helfen würde und konnte mich gleich in der ersten Sitzung gut darauf einlassen. Gerhard Wolfrum war ruhig, sachlich, ich fühlte mich sicher bei ihm und so begannen wir die Sitzung.

Sobald ich an das Alleingelassensein dachte, spürte ich eine deutliche Aktivierung. Der Wert lag für mich bei 8 auf einer Skala von 0-10, wenn 0 der niedrigste Wert ist und 10 der höchste. Gerhard Wolfrum bewertete das als hoch und fragte mich, ob ich anstelle des Aktivierungsspots lieber einen Ressourcenpunkt suchen wollte. Nein, es ging so. Schnell war ein Spot gefunden, an dem ich die Aktivierung deutlich spüren konnte. Es würde mich schon irgendwohin führen. Ich vertraute dem Prozess und blieb bei meinem Alleingelassensein. Ob ich dies Gefühl auch aus anderen Erfahrungen kenne, fragte Gerhard Wolfrum. Ja. Woher?

Es gibt tatsächlich noch eine andere Geschichte. Mein Vater war plötzlich gestorben, als ich noch sehr klein war. Auch an dieser Situation hatte ich schon viele Jahre zuvor gearbeitet, allerdings mit EMDR. Seither hatte sie mich nicht mehr belastet. Die Bilder und Alpträume, die mich deswegen als Kind geplagt hatten, waren lange schon in Vergessenheit geraten. Gerhard Wolfrums Frage, ob ich dieses Alleingelassensein auch aus anderen Situationen kenne, machte mir die Erinnerung an diesen Schrecken plötzlich wieder lebendig. Der Spot führte mich weiter und auch der Therapeut ließ sich führen. Irgendwann hörte ich ihn fragen, ob ich es denn noch aushalten könne. Mir war wirklich elend. Ich konnte mich kaum rühren. Plötzlich fiel mir wieder ein, wo ich war. Aushalten? Ja. Gerhard Wolfrum konnte die Grenze spüren. Er fragte mich, ob es denn in meinem Körper einen Ort gebe, an dem ich mich besser fühlte. Ich fand meine Füße wieder. Die fühlten sich gut an. Gerhard Wolfrum zog einen zweiten Pointer hervor. Damit war auch der Ressourcenpunkt blitzschnell identifiziert. Es war eine Wohltat. Augenblicklich machte sich Wärme in mir breit. Ich blieb innerlich dort, konnte ausruhen. Irgendwann kam ich auf die Idee, ich könnte noch einmal zu dem ersten Spot wechseln und ausprobieren, was passieren würde. Mit einem Schlag kam die Kälte zurück. Das beklemmende Gefühl in der Brust. Ich wechselte zurück. Dies geschah einige Male, bis Gerhard Wolfrum mich fragte, ob es denn noch einen Unterschied gebe zwischen den beiden Spots. Erstaunt stellte ich fest, dass ein Angleichungsprozess in mir stattgefunden hatte. Eine angenehme Pendelbewegung zwischen Spannung und Entspannung, die mich in die Distanz führte, in ein größeres Wohlbefinden, in einen tiefen Entspannungszustand. Gerhard Wolfrum fragte, ob wir beenden könnten. Ja.

In der folgenden Woche zuhause, erlebte ich mich verändert. Ich war erstaunt, dass Brainspotting diese alte Geschichte noch einmal hervorholen konnte. Aber es war nicht die gleiche alte Geschichte. Ich hatte den Eindruck, dass wir an eine tieferliegende Schicht gelangt waren. Die Wirkung konnte ich vor allem in einem verbesserten Körpergefühl spüren. Das erstaunte mich. Von all dem traumatischen Erleben meiner Kindheit hatte ich eine Art innerer Erstarrung, eine Unbeweglichkeit und Verspannung behalten, gegen die ich bisher kein Mittel gefunden hatte. Es half kein Training im Fitnesscenter, kein Radfahren, kein Laufen. Ganz im Gegenteil, manchmal dachte ich, ich arbeite gegen meinen eigenen Körper. Als sei er ein Gummiband, das ich zwar dehnen konnte, das aber beim Loslassen wieder in den alten Zustand zurücksprang und nun spürte ich nach dieser einen Brainspotting-Sitzung eine Veränderung in meiner Bewegungsfähigkeit. Vielleicht war am Ende noch mehr drin?

In der zweiten Sitzung wollten wir an der Situation mit dem Tod meines Vaters weiterarbeiten. Vielleicht würde es gelingen, auch hier in eine tiefere Schicht zu gelangen und noch eine weitere Verbesserung in meinem Körpergefühl zu erzielen? Gerhard Wolfrum wirkte professionell, das überzeugte mich. Er war aufmerksam und zugewandt und so mochte ich mich ihm gern anvertrauen.

Mein Vater war plötzlich gestorben. Diese Situation ist eine meiner frühesten Kindheitserinnerungen und eine der wenigen Erinnerungen, die ich überhaupt an ihn habe. Ich begann zu erzählen. Blitzartig öffnete sich mir, Jahrzehnte später, ein Fenster nach innen und Gerhard Wolfrum nahm den Pointer, um mit mir einen Spot für dieses Fenster zu suchen. Ich staunte wieder, über die Treffsicherheit, mit der man diese Spots finden kann. Mir kamen die Tränen, mein Bauch krampfte sich zusammen, ich geriet unversehens in die Angst, die ich damals als Kind empfunden haben musste. Der Prozess führte mich von einer zur anderen Empfindung in meinem Körper. Wieder bemerkte ich die Sicherheit, mit der sich auch Gerhard Wolfrum von diesem Prozess führen ließ. Er blieb unbeeindruckt von dem, was sich zeigte, fragte nach, griff meine inneren und äußeren Bewegungen auf. Ich spürte Schockwellen durch meinen Körper laufen, wusste kaum noch ein und aus. Gerhard Wolfrum hielt meine Aufmerksamkeit unermüdlich bei meinen Körperempfindungen. Irgendwann verschlug es mir die Sprache und ich brachte kein Wort mehr heraus. Ich ließ es geschehen, blieb mit dem Blick auf dem Pointer. Vieles geschah in diesem Prozess gleichzeitig. Bilder zogen vorbei, durch meinen Körper liefen Krämpfe und Schmerzen, gleichzeitig führten wir unser Gespräch fort. Plötzlich verlor ich den Boden unter den Füßen. Das Alleingelassen sein! Hier hatte es seinen Anfang genommen! Mir wurde wieder schwindlig. Es war, als tue sich der Boden unter mir auf. Ich fühlte mich ohnmächtig, hilflos dem Geschehen ausgeliefert.

Der Hinweis von Gerhard Wolfrum unter uns gebe es einen festen Betonboden samt mehrerer Stockwerke inklusive einer Tiefgarage, machte es noch schlimmer. Da war viel zu viel Luftraum zwischen dem Beton! Ich wusste nicht mehr weiter. Gerhard Wolfrum spürte, dass ich feststeckte, er zog eine Traumabrille hervor, bei der ein Auge schwarz verklebt war. Ich solle es einmal damit versuchen. Manchmal sei der Spot mit einem Auge besser zu halten. Damit ging es tatsächlich besser. Aber langsam wurde es äußerlich unangenehm: Traumabrille, FFP2 Maske, Tränenströme. Egal, es half ganz offensichtlich in eine Tiefe zu kommen, in die ich bis dahin nicht hatte gelangen können. Allmählich wich der Schwindel. Seit diesem Tag ist er aus meinem Leben verschwunden. Gerhard Wolfrum spürte, dass es genug war und ich mich irgendwo festhalten musste. Wo in meinem Körper ich mich denn sicher fühle? In welchem Körper!? Ich musste weit weg gewesen sein, als ich diese Frage hörte. Sie brachte mich zurück. Die Füße konnte ich gut spüren, sie standen fest und sicher auf dem Betonboden – die vielen Stockwerke darunter störten mich nicht mehr. Wir suchten einen Ressourcenpunkt mit einem zweiten Pointer. Das half augenblicklich. Das sichere Gefühl aus den Füßen und Beinen breitete sich in mir aus. Ich blieb bei dem Spot, nahm die Brille ab. Zu dem Aktivierungspunkt mochte ich diesmal nicht zurückkehren. Dieses Pendeln zwischen Anspannung und Entspannung konnte ich auch so spüren, ich ließ es geschehen. Die Belastung nahm deutlich ab.

Die folgenden Tage brachten mir nochmals ein deutlich verbessertes Körpergefühl. Ich wusste gar nicht wohin mit meiner Energie. Trotz des regnerischen Winterwetters unternahm ich lange Spaziergänge und kleine Wanderungen. Es folgten noch einige weitere Sitzungen, aber dies waren wohl die wichtigsten.

Seither ist ein dreiviertel Jahr vergangen. Mein Leben hat sich verändert. Ich bin in Bewegung gekommen. Ohne Schmerzen, ohne Schwindel, und ich kann vieles ausprobieren, was vorher undenkbar gewesen wäre.