Lizensierte Ausbildung

Brainspotting kann auch Sechsjährigen helfen

Fall 6 – Wie Brainspotting auch Sechsjährigen helfen kann mit schwierigen Lebenserfahrungen besser fertig zu werden – Januar 2023

Kurz nach deren sechstem Geburtstag berichtete die Mutter von Jasmin (Name geändert) von wiederholten Bauchschmerzen und erneutem Einnässen der Tochter. Nachdem die sorgfältige somatische Abklärung nichts ergeben hatte, lag die Vermutung nahe, daß ein Auslöser der Wegzug der Kindergarten-Bezugserzieherin von Jasmin sein könnte. Da Jasmin in deren letzter Arbeitswoche erkrankt war, hatte sie sich nicht verabschieden können. Außerdem löste das Ende der Kindergartenzeit Befürchtungen aus. Sie klagte über Angst vor dem „Lärm in der Schule“, denn sie wußte von den älteren Geschwistern, daß in den Klassen deswegen manchmal tatsächlich Lärmschutz-Kopfhörer ausgegeben würden, gleichzeitig schien sie sich aber auch auf das Lernen zu freuen.

Die Mutter griff ebenso wie die Tochter meinen Vorschlag auf, mit in die Praxis zu kommen, wobei sich Jasmin zwar sehr aufgeweckt, aber auch äußerst schüchtern und schamvoll zeigte. Die Mutter hatte Jasmin vorher erklärt, dass sie in die Praxis fahren würden, „um Punkte zu suchen, die ihr helfen könnten, damit das Bauchweh besser werden“ könne. Bereits Im Lift hoch zur Praxis sei sie aufgeregt gewesen, vor der Eingangstüre versteckte sie sich hinter der Mutter und wollte nicht weiter gehen. Auf dem Arm genommen, ließ sie sich in die Praxis tragen. Jasmin versteckte sich auf dem Schoß der Mutter und ließ immer nur kurz Blickkontakt zu. Ein klein wenig Kontakt wurde über ihren Delphin, den sie dabei hatte und meine Fotos von der „Dolfin accademy“ in Curacao in der Karibik möglich, wo ich tatsächlich ein paar Jahre zuvor begeistert mit Delphinen zusammen geschwommen war. Ich erzählte ihr davon und sie hörte aufmerksam zu. Ein bißchen mehr Vertrauen faßte sie möglicherweise über das Aussuchen der Tiere – Fingerpuppen zum Aufstecken auf den Pointer. Sie wählte einen kleinen Elefanten und flüsterte überwiegend der Mutter ins Ohr – die Mutter solle für sie sprechen. Ich als Therapeut erzählte ihr von einem kleinen Elefanten, der immer wieder Bauchweh habe und fragte sie, ob sie das auch kenne. Hierzu suchten wir mithilfe des Pointers mit der Elephanten-Fingerpuppe den ersten „Bauchweh Punkt“, Jasmin schaute kurz vom Schoß der Mutter aus hin, dann versteckte sie sich wieder. Ich fragte, ob sie eine Idee hätte, was dem kleinen Elefanten guttun könnte. Ich fragte dies im Verlauf mehrfach, mal antworte Jasmin „in die Berge fahren“ und erzählte ein bisschen von einer Hütte, wo die Familie oft gewesen war, mal meinte sie „schwimmen gehen“. Sie wollte etwas trinken und ich brachte ihr Saft. Dann fokussierte sie nochmal kurz den „Bauchweh-Punkt“ und ich suchte danach noch einem „Punkt für das Vermissen“ der wichtigen, aber verlorenen Betreuerin. Und zum Schluss suchten wir einen „Punkt, an dem es ihr richtig gut gehen“ sollte. Jasmin schien langsam Vertrauen zu fassen, setzte sich zwischendurch auf den Boden, kehrte immer kürzer auf den Schoss der Mutter zurück und sprach immer mehr direkt mit mir. Der anfänglich mithilfe einer bei EMDR mit Kindern gebräuchlichen Clowns-Bildertafel beschriebene SUD-Score ging von 8 Punkten auf 2 zurück. Dies schien ihr zu genügen und sie freute sich über meinen Vorschlag, den Elefanten und die Bildtafel behalten zu dürfen. Die Mutter berichtete, daß Jasmin im Auto sofort eingeschlafen sei und auch am Abend ganz früh schlafen gegangen sei. Die Mutter berichtete in der Folge von einer „guten Erfahrung“ sowohl für sie als Mutter als auch die Tochter selbst – der Elefant wurde sehr sorgfältig überall mit hingenommen, die Symptomatik habe sich abgeschwächt, sei aber noch nicht vorbei.

Das Bauchweh habe sich in den Sommerferien etwas verbessert, aber durch die Einschulung sei es wieder richtig schlimm geworden. Der Schuleintritt erwies sich tatsächlich als ziemlich schwierig, Jasmin weinte, teilweise stundenlang, die Mutter habe längere Zeit – gegen den Widerstand von Lehrerin und Rektorin, die beide von Erkenntnissen der Bindungsforschung ziemlich unbeleckt schienen – mit im Klassenraum bleiben müssen, da Jasmin sich sonst nicht habe beruhigen können. Daher wurde ein weiterer Termin vereinbart.

Für die zweite Sitzung schien Im Vorfeld wichtig, dass der kleine Elefant gut gefrühstückt hatte, denn er war ja derjenige, der die Arbeit zu machen hatte. Außerdem habe Jasmin die große Schultüte schon am Abend vorher hergerichtet und die Mutter mehrfach daran erinnert, dass sie diese mitnehmen müsse. Als sie aus der Schule abgeholt wurde, schien sie sehr aufgeregt. In der Praxis angekommen, ließ ich mir als erstes die tolle Schultüte zeigen, Jasmin schien sehr stolz und vielleicht sogar schon ein bißchen „aufgetaut“. Dann begann sie auf Nachfrage von Kopfweh und Bauchweh zu erzählen. In Absprache mit der Mutter erklärte ich ihr, dass wir überlegt hätten, mal zu schauen, was es noch an Schwierigem aus den ersten Lebensjahren geben könnte und ob wir Punkte finden könnten, die auch mit dem Kopfweh und dem Bauchweh zusammenhängen könnten. Hierzu sollte die Mutter Erfahrungen aus der Lebensgeschichte ihrer Tochter berichten und ich würde Jasmin fragen, ob sie davon noch etwas spüre.

Als Einstieg fragte ich die Mutter, wann sie gemerkt habe, dass sie noch ein Baby bekomme – sie beschrieb den Zeitraum ungefähr um den vierten Geburtstag der älteren Tochter. Ich fragte Jasmin eher neutral: „Wie ging es dem Baby da“? Sie antwortete sofort: „Gut“. Die Mutter berichtete, daß sie zwischen der 10. und 22. SSW auf Grund von wiederholten Blutungen habe liegen müssen und Angst gehabt hätte, das Baby zu verlieren. Ich fragte Jasmin wieder eher neutral: „Wie ging es dem Baby da“? Sie antwortete zum Erstaunen der Mutter wieder spontan: „Gut“. Die Mutter berichtete weiter, daß sich die Schwangerschaft stabilisiert habe. Kurz vor dem Geburtstermin sei aber alles sehr plötzlich und schnell gegangen – nahezu unmittelbar seien Wehen im Abstand von unter 3 Minuten aufgetreten. Ich fragte wieder eher neutral: „Wie gings da dem Baby“? Jasmin antwortete sofort: „Schlecht!“ Ich fragte sie, wo sie hierzu etwas in ihrem Körper spüren würde? Sie klagte über Bauchweh. Wir suchten anfangs den höchsten Belastungspunkt hierzu, wechselten aber schnell dorthin „wo es sich besser anfühlt“, also eine Art von Ressourcenspot. Jedenfalls war auch hier der Elefant im Einsatz und ich erinnerte Jasmin immer wieder daran, zum Blickpunkt zu schauen, denn der Elefant würde helfen, dass das Bauchweh besser wird – was erstaunlich schnell ging.

Die Mutter berichtete weiter, daß sie bereits auf dem langen Klinikgang zum Kreissaal nur noch mit Unterstützung ihres Mannes habe laufen können. – die Wehen seien im Minutentackt gekommen. Wieder fragte ich Jasmin: „Und wie ging es da dem Baby“? Sofort kam die Antwort: „Schlecht“, sie beschrieb Bauchweh und wieder mußte der Blickpunkt mit dem Elefanten helfen, was er auch tat. Im Kreissaal war Jasmin in weniger als einer Stunde trotz Hinterhauptslage („Sterngucker“) geboren. Wieder stellte ich die Frage, wie es dem Baby dabei gegangen sei: „Schlecht“, aber diesmal mit Kopfweh. Hier begann Jasmin ihre mitgebrachte Schultüte zu öffnen, ein Kissen nach oben zu ziehen und intuitiv darauf rhythmisch zu trommeln. Ich war erstaunt und ermunterte sie damit weiterzumachen, denn es wirkte wie ein EMDR-ähnliches Tapping und sie tappte mit ziemlicher Intensität links, rechts, links, rechts…

Die Mutter berichtete weiter, Jasmin sei auf die Brust gekommen und habe „ewig nicht gemerkt, dass sie geboren“ sei – sie habe nicht geatmet, sei aber durch die Nabelschnur gut versorgt gewesen. Die Hebamme habe auf beide aufgepasst und ruhig abgewartet. Auf die Frage, wie es dem Baby dabei gegangen sei, antwortete sie uneindeutig, beschrieb aber wieder Kopfweh. Sie fand nun schnell selbst zu einem entsprechenden Blickpunkt, der Elefant war wieder im Einsatz. Diesmal ging es ziemlich schnell, das Kopfweh wurde leichter und sie wollte eine Brotzeitpause. Sie stärkte sich mit Essen und Trinken aus mitgebrachtem Proviant – das Ganze schien doch ziemlich anstrengend zu sein – zumal sie jetzt voll bei der Sache war.

Anschließend fragte ich die Mutter, wie es weitergegangen sei. Sie berichtete, daß Jasmin die ersten Wochen fast nur an einer Seite habe trinken können und viel geweint hätte. Auf die Frage, wie es dabei dem Baby gegangen sei, antwortete Jasmin erneut sofort: „Schlecht“. Mittlerweile hatte ich sie auf andere Finger-puppentiere aufmerksam gemacht und sie wählte einen Hund, denn diese gebe es auch Zuhause. Auf der Suche nach dem passenden Blickpunkt lotste sie mich nach oben bis an die Decke der Praxis und wurde dabei immer aktiver. Und soweit ich mich erinnere, waren hier mehrere Tiere im Einsatz, bis es besser wurde. Die Mutter erzählte, dass ihre Tochter ein paar Mal von einer Osteopathin behandelt werden mußte, die ihr helfen konnte. Und zum Erstaunen der Mutter beschrieb auch hier die kleine Jasmin, daß es da dem Baby sehr schlecht gegangen sei – wieder kamen Kopfschmerzen und auch Schmerzen in der Brust. Die Antworten, wie es dem Baby geht, flüsterte sie dabei der Mutter ins Ohr und zwar mehrfach anfangs in unverständlichem Babygebrabbel. Die Mutter musste wiederholt nachfragen und Jasmin erklären, dass sie so leider nicht verstehbar sei. Auch kuschelte sie sich immer wieder zwischendurch an die Mutter an, vor allem auf der Seite, auf der sie als Baby auch von Anfang an trinken konnte.

Bei den Schmerzen in der Brust fragte sich die Mutter nachträglich, ob Jasmin doch auch etwas von ihrem kleinen Herzfehler mitbekommen hatte. Sie wunderte sich selbst, daß sie das, warum auch immer, vergessen hatte zu erzählen. Wahrscheinlich weil es ihr nie Schwierigkeiten gemacht hätte, dennoch habe sie alle drei Monate zum Kardiologen gemußt, zwecks Herzultraschall und EKG. Und das absolute Ruhigliegen während der Untersuchungen habe sie nicht besonders gemocht. Hier begann Jasmin mir meinen ganz langen Pointer aus der Hand und ihn selbst zu nehmen und nutzte alle vorhandenen Tiere, um sie zu einem Punkt oben an der Zimmerdecke „hochzufahren“. Hier dauerte es deutlich länger, bis das Kopfweh nachließ. Und interessanterweise nahm sie durch die Fokussierung der Punkte an der Decke auch die völlig überstreckte Körperposition ein, mit der sie auf die Welt gekommen war.

Fallbericht - Brainspotting kann auch Sechjährigen helfen

Aber es ging noch weiter – die nächste Etappe betraf die Eingewöhnung in die Kinderkrippe mit 18 Monaten, als sie ihre bereits erwähnte Bezugserzieherin kennenlernte. Auch hier tat sie sich mit dem Übergang schwer und die Eingewöhnung dauerte drei Monate. Sie beschrieb, dass es dem Baby nicht gut, gehe, beschrieb Kopfweh und wieder suchte sie einen Punkt an der Zimmerdecke, diesmal aber nur kurz. Die nächste Etappe betraf den Wechsel in den Kindergarten, wieder brauchte sie lange für die Eingewöhnung, obwohl die vertraute Betreuerin mitgewechselt sei. Obwohl Jasmin die Situation als „nicht gut“ beschrieb, suchte sie hier keinen Blickpunkt. Am Schluss ging es nochmals um den Abschied von der wichtigen Bezugsperson. Nochmals mußten alle Tiere zur Decke „hochgefahren“ werden. Und nicht zu vergessen: Nach fast jeder Episode trommelte sie auf ihrer Schultüte mit EMDR-mäßigem Tapping für einige Augenblicke und mit zunehmender Intensität.

Schließlich entschied Jasmin, dass es genug sei, sie wolle aber erst gehen, wenn es draußen nicht mehr regnen würde, weshalb ich ihr einen Malblock und Stifte anbot. Sie zeichnete zwei Bilder mit einem Hund und einem Elefanten, schenkte eines der Mutter, das andere mir. Zum Schluß wollte Jasmin den kleinen Elefanten gegen den Hund tauschen, um jetzt den Hund mit heimnehmen zu können, da der noch viel besser helfe. Ich schenkte ihr beide und die Mutter beschrieb anschließend, beide würden jetzt mit am Esstisch sitzen und würden auch mit ins Bett gehen. Sie berichtete weiterhin, daß Jasmin, wann immer Bauch- oder Kopfweh auftauchen würden, sie in das Arbeitszimmer der Mutter sausen würde, sich deren Zeigestab zu holen, den Hund oder den Elefanten draufsetzen und sich einen relevanten Blickpunkt suchen würde. Meistens halte sie den Pointer selbst und wenn dennoch kein Punkt passe, werde jeder, der gerade greifbar sei, gebeten, den Pointer kurz zu für sie zu halten.

Als die ältere Schwester kürzlich Fieber und Halsweh entwickelte, habe Jasmin auch einen Punkt für sie gesucht und sei sehr erbost gewesen, daß weder Fieber noch Halsweh verschwunden seien. Das war nach Berichten der Mutter die einzige Situation seit der zweiten Sitzung mit Jasmin, daß „Rumpelstilzchen wieder kurz zu Besuch war“, wie die Mutter das formulierte.

Jedenfalls habe sie auf dem Heimweg nach der zweiten Sitzung die komplette Fahrt über Kinderlieder gesungen, wird aktuell von der Mutter als fröhlich beschrieben, gehe ohne Tränen in die Schule und sei beim Nachhausekommen müde und kuschelig, aber nicht mehr für Stunden Rumpelstilzchen wie vorher.

Der Vater meinte zu den beobachtbaren Veränderungen des Mädchens: „Auch wenn Jasmin noch gelegentlich Bauchweh hat, ist es bei weitem seltener und nicht mehr so stark. Sie ist unbeschwerter, fröhlicher und selbstbewusster, geht auch mal auf nicht so vertraute Menschen zu. Vor allem kann sie aber viel besser ausdrücken, was sie braucht“.

Ab schon „alle Reste“ der alten Belastungserfahrungen abgearbeitet sind, wird die Zukunft zeigen. Das beschriebene Vorgehen mit Brainspotting scheint der kleinen Jasmin jedenfalls weitergeholfen zu haben, denn sie hat hierdurch Möglichkeiten gefunden, aus Zuständen von schmerzhafter Hilflosigkeit selbst aktiv herauszufinden. Sie können das therapeutische Vorgehen in meinem Brainspotting-Lehrbuch (Wolfrum, G., 2020) im von Frau Dr. Theresia Stöckl-Drax beschriebenen Kapitel zur Entwicklungsheilkunde (www.entwicklungsheilkunde.org) nachlesen. Wenn Sie das Vorgehen selbst lernen wollen, können Sie bei ihr Kurse buchen – Sie finden Sie auf der Webseite www.brainspotting-germany.de