Lizensierte Ausbildung

Fallbeispiele aus der Praxis - Juli 2022

Fallbeispiel Brainspotting

Hier stellen wir Ihnen aktuelle Fallbeispiele vor, wie Brainspotting eingesetzt werden kann. Wir werden voraussichtlich monatlich einen neuen Fall vorstellen.


Fall 1 – Keine PTBS dank Brainspotting – Juli 2022

Ausgangssituation

Die 45jährige Heilerziehungspflegerin berichtete mit großer Betroffenheit von dem schrecklichen Vorfall, den sie an ihrem Arbeitsplatz habe miterleben müsse: Sie sei schon den ganzen Tag wegen des Verschwindens zweier etwa älterer Damen ziemlich beunruhigt gewesen, für die zuständig gewesen sei. Sie habe diese beiden liebenswürdigen, aber etwas zwanghaften Damen sehr gut gekannt und auch gemocht und habe für deren Betreuung schon viele Jahre gearbeitet – sie seien für sie „wie eigene Kinder“ gewesen. Am späteren Nachmittag habe sie einen Anruf von der Polizei bekommen, die beiden Damen seien in der Wohnung eines ihr ebenfalls bekannten Bewohners erwürgt aufgefunden worden. Dies habe sie in einen Schockzustand versetzt, an weiteres Arbeiten sei nicht mehr zu denken gewesen, sie sei bei einem Durchgangsarzt vorstellig geworden, kleinste Belastungen hätten sie aus der Bahn geworfen, ständig sei sie in Tränen ausgebrochen. Den Täter habe sie ebenfalls gekannt, er habe als psychiatrisch auffällig, aber harmlos gegolten – dass er zu so etwas fähig gewesen sei, sei für sie unfassbar. Sie habe sich nun krankschreiben lassen und wolle von niemandem „betüttelt“ werden, sondern brauche Ruhe und Abstand. In der Folgesitzung klagte sie über Schlafstörungen, wobei hier Medikation etwas geholfen hätte.

Diagnostik

Eine Erfassung der aktuellen Symptombelastung mithilfe des Screening-Fragebogens PTSS-10 (Skala zur Erfassung von Reaktionen nach Belastungen) ergab zehn Tage nach dem Vorfall den unter dem kritischen Grenzwert liegenden Belastungs-Wert von 29 Punkten – ab 36 Punkten spricht man vom dringenden Verdacht auf das Vorliegen einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Dabei zeigten sich am stärksten ausgeprägt Schreckhaftigkeit (auch bei Telefonklingeln oder Polizeifahrzeugen), gefolgt von Ein- und Durchschlafstörungen, depressivem Gedrücktsein („kann nicht mehr so wie ich will“), starken Rückzugsbedürfnissen und Erinnerungsängsten („Angst vor Stellen und Situationen, die mich an das belastende Ereignis erinnern könnten“, z.B. die WG selbst, wo die Zimmer ausgeräumt werden sollten), gefolgt von gelegentlichen Albträumen und leichten Stimmungsschwankungen. Immer wieder müsse sie sich die Frage stellen, wie sahen die letzten Minuten und Sekunden der beiden Mordopfer aus – habe der Täter beide gleichzeitig oder nacheinander erwürgt u.ä..

Therapieverlauf/Behandlung mit Brainspotting

Diagnostisch dürfte es sich bei der Klientin um eine akute Belastungsreaktion (F43.0) gehandelt haben, die sich ohne weitere psychotherapeutische Unterstützung durchaus auch in das Vollbild einer Posttraumatischen Belastungsstörung hätte verändern können. Immerhin gab es Bindungen und Beziehungen, die ihr Halt gaben und die Fähigkeit, sich zu entspannen und für das eigene Wohlergehen zu sorgen – damals allerdings eingeschränkt. Im Sinne einer Ressourcenstärkung wurde der Klientin der Auftrag gegeben, nach Positiverfahrungen ihres Lebens und danach zu suchen, was ihr jetzt guttun würde, wobei sie erstaunlich fündig wurde. Die Beisetzung des ersten Mordopfers schien nach Schilderung der Klientin schrecklich unwürdig verlaufen zu sein, außerdem war sie hierbei erstmalig wieder voll mit dem Geschehenen konfrontiert. Vielleicht entwickelte sie auch deswegen in Folge eine schwere Erkältung, die weiteres therapeutisches Arbeiten kaum möglich machte. Immerhin konnte aber mit imaginativen Verfahren eine weitere Ressourcenstärkung auf Körperebene erfolgen. In der vierten Sitzung berichtete sie von den Schwierigkeiten und Belastungen, wieder zu arbeiten und wieder mehr mit den schrecklichen Vorfällen konfrontiert zu sein. Aus diesem Grunde wurde ihr eine Sitzung mit dem ihr unbekannten Brainspotting-Verfahren angeboten. Sie ließ sich darauf ein und beschrieb bei der Schilderung des Mordtages „Enge in der Brust“ mit SUD=9, wollte aber keine Körperressource haben. Nach Auffinden des Brainspots mithilfe des inneren Fensters zeigten sich – sehr zur Überraschung der Klientin – heftigste „Entladungen“ im Körper und vor allem der in der Muskulatur gespeichert gebliebene Anspannungen – sie wurde zeitweise regelrecht “vom Sitz gehoben”. Sie war ziemlich irritiert und fragte mehrfach, ob sie jetzt „verrückt“ geworden sei, denn sie hatte offensichtlich keinerlei Kontrolle mehr über das, was nun im Körper ablief. Ich fragte sie während des Prozessierens nach dem „Emanation point“, also dem Bereich im Körper, wo die „Switches“ ihren Ausgang nehmen würden. Zu ihrem Entsetzen verstärkten sich die „Switches“ und sie beschrieb unter großer Anspannung die Innenseiten der Oberschenkel. Nachdem der „Spuk“ nach mindestens zwanzig Minuten allmählich abgeebbt war und sie erschöpft im Sessel zurückfiel, wollte sie wissen, warum diese Entladungen aus dem beschriebenen Bereich gekommen seien. Ich erklärte ihr, ich können dies nicht genau wissen, würde aber vermuten, daß es sich um den Musculus iliopsoas, den Hüftbeuger, handeln könne. Dieser sorge normalerweise für die Körperaufrichtung, führe aber unter Stressbelastungs-Erfahrungen sehr häufig zu Verkürzungen und oft nachfolgend auch zu Rückenschmerzen, was selten erkannt und verstanden würde. Insgesamt gesehen habe es sich wohl um die Entladung von trauma-bedingten Freeze-Zuständen gehandelt (also aus dem Hirnstamm-Bereich stammend), wozu ich ihr während des Prozessierens zu ihrem Erstaunen immer wieder gratuliert hatte. Für sie selbst war das Ganze natürlich körperlich sehr anstrengend und sie gab in der darauffolgenden letzten Sitzung an, danach „völlig platt“ gewesen zu sein, aber nicht mehr für Triggerreize, auch nicht am Arbeitsplatz, anfällig zu sein. Sogar in die Wohnung eines der Opfer habe sie fahren können – „es war gut“, auch sei sie nicht mehr in einem inneren Alarmzustand. Mit guten Wünschen selbstfürsorglich weiterhin mit sich umzugehen, konnte sie nach insgesamt fünf Sitzungen verabschiedet werden – nicht ohne das Angebot sich wieder melden zu dürfen, falls nochmals etwas Belastendes auftauchen würde, was sie nicht in Anspruch nahm.